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Physical Internet: Auf dem Weg zur revolutionären Logistiklösung

Anna Nicole Fischer
24. Juli 2023

Das Physical Internet könnte die Logistikbranche grundlegend transformieren und somit ihre Nachhaltigkeit und Effizienz fördern. Aktuelle Gegebenheiten in der Branche zeigen jedoch, dass für die weitläufige praktische Umsetzung noch einige Barrieren zu überwinden sind.

In zwei Blogbeiträgen über das Physical Internet (PI) haben wir uns bisher mit dem Grundgedanken hinter dem PI sowie mit den technischen Voraussetzungen beschäftigt. Abschließend wollen wir uns in diesem Beitrag die Business-Ebene genauer ansehen und dabei die folgenden Fragen beantworten: Gibt es bereits ein vollumfänglich etabliertes Physical Internet? Wo sehen wir die potenziell größten Einsatzbereiche? Und: Was behindert die Umsetzung derzeit noch?

Status quo der PI-Implementierung: Pilotprojekte und Herausforderungen

Gibt es das Physical Internet in vollumfänglich etablierter Form? Die schnelle und einfache Antwort ist: Nein. Um das PI in die Praxis zu bringen, müssen alle Akteure der Lieferkette miteinander kollaborieren und sämtliche Objekte standardisiert vernetzt sein – ein hochkomplexes Unterfangen. In der praktischen Umsetzung gibt es daher derzeit noch kein PI, das tatsächlich gänzlich etabliert wurde.

Allerdings: Es ist schwierig abzugrenzen, ab wann ein PI überhaupt als eigenständig und etabliert gilt. Derzeit gibt es noch keine festgelegten Kriterien, nach denen dies bewertet werden könnte. Klar ist, dass wir von einer Implementierung auf nationaler und vor allem globaler Ebene derzeit in vielen Punkten noch weit entfernt sind. Es gibt aber zumindest einige Pilotprojekte, die schon „live geschaltet“ sind.

In Österreich sind 17 Partner an dem LeitprojektPhysICAL – Physical Internet through Cooperative Austrian Logistics“ beteiligt. Bis zum Projektende im Jahr 2024 wollen sie zeigen, dass das PI sowohl ökonomische als auch ökologische Vorteile bringt. In diesem Projekt wurde bereits eine offene und intermodale Plattform für alle Teilnehmer entwickelt, die durch einen Optimierungsalgorithmus Transportfahrten durch Zusammenlegung wegrationalisiert.

Auch in Frankreich wurde vor einigen Jahren ein Simulationsmodell mit zwei der größten französischen Einzelhändler Carrefour und Casino sowie ihren wichtigsten Lieferanten entwickelt. Darüber hinaus entwickelt die Organisation „alice“ – Alliance for Logistics Innovation through Collaboration in Europe – eine branchenführende Strategie für Forschung in der Logistik in Europa und wird dabei von der Europäischen Union mitfinanziert. Dafür wurden eine Roadmap und auch eine Knowledge-Plattform zum PI ins Leben gerufen.

Forschungsbestrebungen und Pilotprojekte gibt es also bereits reichlich. Auch Start-Ups haben sich in dem – heute noch – Nischenmarkt niedergelassen und unterstützen bei Projekten rund um das PI. Auch bereits existierende moderne Transport- und Warehouse-as-a-Service-Plattformen können zukünftig nützlich für das PI sein, da sie standardisierte, flexible, erschwingliche und skalierbare Lösungen für die Transportplanung und Bestandslagerung bieten.

Die PIs aus den beschriebenen Pilotprojekten sind allerdings noch räumlich begrenzt und bestehen aus einer festen Anzahl an Akteuren. Die Eingliederung eines neuen Teilnehmers ist daher noch nicht so unkompliziert wie in der Theorie erträumt.

PI in der praktischen Umsetzung: Zahl der Akteure begrenzen

Das größte Einsatzpotential des PI herrscht derzeit in kleinen bis mittelgroßen Firmennetzwerken in dedizierten Branchen. Die einzugliedernden Akteure müssten in ihrer Anzahl begrenzt werden, sodass das PI eine gewisse Größe nicht überschreitet.

Will man die Erprobung des PIs auf ein bestimmtes Produkt begrenzen, sollte eines gewählt werden, das nicht aus zu vielen Einzelteilen besteht, die alle von unterschiedlichen Lieferanten stammen. Hier sind – ganz im Gegensatz zur Realität – jene Produktkomponenten besonders charmant, die über eine Single- oder Dual-Sourcing-Strategie beschafft werden können. Denn so wird die Anzahl der Beteiligten klein gehalten. Bei der Begrenzung auf ein Produkt wäre es das Ziel ein PI zu entwickeln, welches das komplette Lieferantennetzwerk eines Endproduktes sowie die horizontalen Akteure – die heutigen Konkurrenten – umfasst. Idealerweise würde das PI dann aus den Lieferanten des Endprodukts sowie den horizontalen Konkurrenzunternehmen bestehen – und dies stellt bereits eine bemerkenswerte Anzahl an Akteuren dar.

Logistikdienstleister als Vorreiter

Am interessantesten und derzeit auch am einfachsten wäre die Erprobung des PIs unter regional ansässigen Logistikdienstleistern ohne genauen Produktfokus. Sie sind prädestiniert dafür, weil sie Experten im Bereich der Logistik sind, in einer einheitlichen Branche arbeiten, sich gut mit Lademitteln und Routenplanung auskennen und tagtäglich mit Transportdaten arbeiten.

Auch hier muss jedoch eine gewisse Eingrenzung durch z.B. die Art und Größe der zu liefernden Produkte gegeben sein. Durch horizontale Integration der verschiedenen Logistikdienstleister untereinander könnte die Service-Level-Qualität erhöht und Kosten reduziert werden. Spezifisch liegt das größte Potenzial aktuell durch die nationale Eingrenzung im KEP-Geschäft (Kurier-, Express- und Paketdienstleistungen). Denn neben Paletten wird die Entwicklung von kleinteiligeren Boxen, die sich bei Bedarf zusammenfügen lassen, eine wichtige Rolle spielen.

Logistikdienstleister werden also diejenigen sein, die das PI in den ersten Schritten aktiv mitgestalten. Eine produktbezogene Einführung eines PIs, in der ein produzierendes Unternehmen selbstständig Teil des PIs wird, ist in der nahen Zukunft denkbar, aber gestaltet sich komplizierter.

Mangelnde Kollaborationsbereitschaft bleibt die größte Hürde

Technisch ist die Umsetzung des PI bereits möglich – was die Grundlagen dafür sind, haben wir schon beschrieben. Die Hürden, das PI in die Praxis zu bringen, liegen an anderer Stelle. Denn nach wie vor ist der Logistikmarkt geprägt von einem grenzübergreifenden Verdrängungswettbewerb, in dem Daten Macht sind und eine grundsätzliche Aversion gegenüber Kooperation herrscht.

Die Marktöffnung, die mit der Einführung des PIs einhergehen muss, ist eine große Hürde. Sie fordert Kontrollverlust von allen Akteuren, um ein gemeinsames größeres Ziel zu erreichen. War die vertikale Integration in Zeiten der Globalisierung in Vergessenheit geraten, so hat sie während der Corona-Pandemie ein Comeback gefeiert. Die wohl bekanntesten Beispiele in diesem Bereich sind die großen Online-Retailer, deren Unternehmensstrategie eben nicht auf Kollaboration, sondern auf der Wiedereingliederung möglichst vieler Prozesse basiert. Während Corona folgten andere Unternehmen diesem Trend. Die große Ungewissheit und auch Angst vor der Disruption globaler Lieferketten trägt dazu bei, dass vertikale Integration nach Corona derzeit mehr im Trend liegt als die horizontale. Die letztere wäre aber für das PI besonders von Bedeutung.

Auch neue Entwicklungen im Sinne der Synchromodalität und die Erfindung neuer Verkehrsträger wie Cargo-Bikes und Drohnen müssen beobachtet und einbezogen werden. Nicht nur die Eingliederung aller Akteure kann daher eine Herausforderung sein, sondern auch die Eingliederung neuartiger Verkehrsträger.

Ein weiterer, noch ungelöster Punkt ist die notwendige Governance des PI. Das umfasst die erforderlichen Entwicklungen, um die Logistikknoten, Logistiknetze und das gesamte System des PIs zu führen. Dafür sind festgelegte Regeln sowie vertrauensbildende Prozesse und Mechanismen vonnöten. Ob eine politische oder eine private Institution diese Aufgabe übernimmt, bleibt eine Frage für die Zukunft.

Vernetzung als Grundlage für Erfolg

Wann ein PI als erfolgreich umgesetzt gilt, ist Auslegungssache – und es ist fraglich, ob man als Ziel tatsächlich direkt die globale Ebene erträumen sollte. Aber es bleibt klar, dass durch Vernetzung Wissen geschaffen wird. Dieser Grundsatz muss dringend weiter kommuniziert und akzeptiert werden. Kein Akteur allein kann die Logistikbranche nachhaltig ändern – das geht nur gemeinsam.

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Autorin

Anna Nicole Fischer

Anna Nicole Fischer ist Business Analyst im Bereich Consumer Products, Retail & Distribution und Transport und fokussiert auf Supply Chain Management.