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Künstliche Intelligenz in Krankenkassen: Eine vielversprechende Zukunftsvision

Daniela Nahnsen
29. Juli 2024

Die fortschreitende Entwicklung der künstlichen Intelligenz (KI) hat viele Branchen beeinflusst und verändert, und das Gesundheitswesen ist keine Ausnahme.

Krankenkassen stehen vor der Herausforderung, mit den technologischen Fortschritten Schritt zu halten und die Vorteile der KI zu nutzen. Dabei hat insbesondere die elektronische Patientenakte (ePA) einen großen Einfluss auf das Potenzial von KI in Krankenkassen. Durch die Digitalisierung und die zentralisierte Speicherung von Gesundheitsdaten in der ePA können KI-Systeme auf eine große Menge an Informationen zugreifen und diese analysieren; daraus ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten für den Einsatz von KI in Krankenkassen.

In diesem Blogartikel werfen wir einen Blick auf die verschiedenen Anwendungsbereiche von KI in Krankenkassen und diskutieren sowohl die potenziellen Vorteile als auch die Herausforderungen und ethischen Aspekte, die mit dieser Entwicklung einhergehen.

Automatisierung von Verwaltungsprozessen

  1. KI-Systeme können repetitive Aufgaben wie die Bearbeitung von Anträgen und die Verwaltung von Versicherungsansprüchen übernehmen, was zu Effizienzsteigerungen und damit zu Kosteneinsparungen führt. So können beispielsweise Anträge durch eine Kombination aus Formular- und Schrifterkennung maschinell ausgelesen, auf ihre Plausibilität geprüft und in das entsprechende IT-System übertragen werden. Auf Basis vergangener Entscheidungen können die Mitarbeitenden wichtige Hinweise erhalten, um die anschließende Entscheidung bzgl. der Leistungsbewilligung zu treffen. Das bedeutet, dass diese sich auf komplexere Aufgaben konzentrieren können, während KI-Systeme die einfacheren Routineaufgaben erledigen.
    In einer „digitalen“ Krankenkasse wird das zukünftig so aussehen: Der Antrag für eine Reha-Maßnahme wird vom Arzt manuell ausgefüllt und vom Versicherten eingereicht. Im Posteingang der Krankenkasse wird sowohl die Art des Antrags als auch der Inhalt erkannt. Auf Grundlage der ärztlichen Diagnosen und der Patientenhistorie wird die Dringlichkeit der Reha-Maßnahme automatisch bestimmt; möglicherweise hat die KI bereits geeignete Reha-Einrichtungen identifiziert. Im System wird der Antrag entsprechend priorisiert, so dass die Mitarbeitenden diesen der Dringlichkeit entsprechend zügig bearbeiten.
  2. Insbesondere können KI-Systeme durch die Analyse großer Datenmengen auch Auffälligkeiten in den Abrechnungsdaten identifizieren, die für den Menschen aufgrund der hohen Komplexität und der großen Menge der Daten nicht ersichtlich sind. Hier besteht für die Krankenkassen die Möglichkeit, Abrechnungsbetrug zu entdecken und die damit verbundenen Mehrkosten entsprechend zu reduzieren.
    In einem möglichen Fall von Abrechnungsbetrug erhält ein Leistungserbringer Provisionen von anderen Leistungserbringern. In der Folge könnten teure oder unnötige Maßnahmen verschrieben werden. Solche Betrugsfälle werden durch Einzelfallbetrachtungen kaum entdeckt, wohl aber durch die Analyse großer Datenmengen, z.B. durch den Vergleich von Arztpraxen mit demografisch und sozial ähnlicher Patientenstruktur. Diese auffälligen „Ausreißer“ können durch statistisch trainierte Modelle maschinell identifiziert und im Anschluss von einem Menschen überprüft werden.

Durch den Zugriff auf digitale Gesundheitsdaten können viele administrative Aufgaben zukünftig noch besser automatisiert werden, da die Umwandlung von analogen Daten (z.B. eingescannte Dokumente) in digitale Daten entfällt. Dies führt zu einer deutlich effizienteren und kostengünstigeren Abwicklung der Prozesse in den Krankenkassen, was einerseits den Versicherten durch eine zeitnahe Rückmeldung zugutekommt. Andererseits muss aber auch sichergestellt werden, dass KI-Entscheidungen durch eine ausgewogene Mensch-Maschine-Interaktion überprüft werden können.

KI-gesteuerte Diagnose und Behandlung

KI kann in der Diagnose und Behandlung von Krankheiten eingesetzt werden, beispielsweise als Zweitmeinung zu einer erfolgten ärztlichen Diagnose.

  1. In der Diagnostik kann KI medizinische Bilddaten wie Röntgen, CT- oder MRT-Aufnahmen analysieren und dabei helfen, Anomalien oder Krankheitsmuster zu erkennen. Durch den Einsatz von KI-Algorithmen können Ärztinnen und Ärzte somit bei der Diagnosestellung unterstützt werden, was zu einer höheren Genauigkeit und Früherkennung von Krankheiten – und damit zu geringeren Behandlungskosten – führen kann. Krankenkassen können einen KI-basierten Diagnose-Check auch routinemäßig nach einer erfolgten Mammografie einsetzen, um eine Zweitmeinung einzuholen. Für die Krankenkassen ergeben sich dadurch Einsparmöglichkeiten, wenn eine Krebserkrankung durch den automatisierten Diagnose-Check früher erkannt wird und die Behandlungskosten dadurch geringer ausfallen.
  2. Mit dem Ziel einer „personalisierten“ medizinischen Versorgung kann ein KI-System Patientendaten analysieren und individuelle Behandlungspläne erstellen. Durch den Einsatz von Algorithmen und maschinellem Lernen können Patienten mit ähnlichen Merkmalen und Krankheitsverläufen identifiziert und Ärzten Empfehlungen für eine wirksame und erfolgversprechende Behandlungsstrategie gegeben werden.
  3. Während der Behandlung kann die KI fortlaufend Patientendaten überwachen und Auffälligkeiten oder Verschlechterungen frühzeitig erkennen. Dies kann dem ärztlichen Personal dabei helfen, rechtzeitig zu intervenieren und ggf. die Behandlung anzupassen.
    KI-gestützte Chatbots oder virtuelle Assistenten können zudem die Patientenversorgung nachhaltig verbessern, indem sie Patienten bei der Selbstüberwachung und -pflege unterstützen. Sie können an die Einnahme von Medikamenten erinnern, Gesundheitstipps geben oder bei der Terminplanung helfen.

KI-basierte Prävention

Die Prävention von Krankheiten ist eine klassische Win-Win-Situation: Die Versicherten werden nicht krank, und die Krankenkassen haben geringere Behandlungskosten. Die KI kann Krankenkassen bei der Prävention auf verschiedene Weise unterstützen.

  1. KI-Systeme können große Mengen von Gesundheitsdaten analysieren und Zusammenhänge erkennen, die auf mögliche Risiken oder Krankheitsanfälligkeiten hinweisen. Durch den Einsatz von maschinellem Lernen können Krankenkassen Frühwarnsysteme entwickeln, um gefährdete Personen zu identifizieren und präventive Maßnahmen zu empfehlen.
  2. KI-Systeme können individuelle Gesundheitsdaten analysieren und personalisierte Präventionsstrategien entwickeln. Unter Berücksichtigung von Faktoren wie Alter, Geschlecht, genetischer Veranlagung und Lebensstil können so maßgeschneiderte Empfehlungen für gesunde Verhaltensweisen, Ernährung oder Bewegung gegeben werden.
  3. KI-gestützte Telemedizin und digitale Gesundheitslösungen ermöglichen es den Versicherten, ihre Gesundheitsdaten eigenständig zu überwachen und mit Ärzten oder Pflegepersonal virtuell zu interagieren. Krankenkassen können Gesundheits-Apps oder Wearables anbieten, um die Gesundheit der Versicherten mit Hilfe von KI-Algorithmen zu überwachen und bei Bedarf rechtzeitig einzugreifen.

Datenschutz und Ethik

Die Erhebung und Speicherung von Sozialdaten durch die Krankenkassen ist in §284 des SGB V geregelt und erlaubt beispielsweise die Verwendung für die Prüfung der Leistungspflicht (Abs.1 Nr. 4), zur Unterstützung der Versicherten bei Behandlungsfehlern (Abs.1 Nr. 5), zur Abrechnung mit den Leistungserbringern, einschließlich der Prüfung auf Rechtmäßigkeit und Plausibilität (Abs. 1 Nr. 8) und zur Vorbereitung von Versorgungsinnovationen (Abs. 1 Nr. 19).

Allerdings sind Krankenkassen verpflichtet, sowohl die Vorgaben der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) als auch die ethischen Rahmenbedingungen des EU AI Act zu berücksichtigen. Der EU AI Act, der im März dieses Jahres vom Europäischen Parlament beschlossen wurde, regelt insbesondere den Einsatz von KI-Systemen, die als hochriskant eingestuft werden; darunter fallen auch Anwendungen im medizinischen Bereich, die Diagnosen stellen oder Behandlungen unterstützen, da hier die Gefahr von Fehldiagnosen oder unangemessenen Behandlungen besteht. Wenn als hochriskant eingestufte KI-Systeme in Krankenkassen eingesetzt werden, müssen diese nach dem EU AI Act verschiedene Maßgaben erfüllen, wie zum Beispiel

  • Transparenz und Erklärbarkeit, die es sowohl den Mitarbeitenden der Krankenkassen als auch den Versicherten ermöglicht, die Entscheidungsfindung des KI-Systems nachzuvollziehen
  • Angemessenes Risikomanagement durch ein kontinuierliches Monitoring der Funktionstüchtigkeit des KI-Systems, um einen sogenannten „Model Drift“[1] frühzeitig zu erkennen
  • Weitergehende Aspekte zum Schutz personenbezogener Daten, die über die DSGVO hinausgehen
  • Verantwortung und Haftung, d.h. Krankenkassen könnten verpflichtet werden, die Verantwortung für die Implementierung und den Betrieb von KI-Systemen zu übernehmen

Diese regulatorischen Rahmenbedingungen sollten unbedingt vor der Implementierung von KI-Systemen im medizinischen Bereich berücksichtigt werden.

Capgemini hat bereits für mehrere Behörden ein Konzept für KI-Ethik umgesetzt. Dieses umfasst unter anderem immer den Aufbau eines interdisziplinären und diversen Gremiums. Um die Vertraulichkeit der Daten zu gewährleisten, kann Confidential Computing eingesetzt werden; in diesem Kontext hat Capgemini eine Partnerschaft mit dem deutschen Startup Edgeless Systems, deren Technologie bereits in der ePA eingesetzt wird.

Abbildung 1: Potenzial der Anwendung von Künstlicher Intelligenz im Gesundheitswesen

Gemeinsame KI-Investitionen für eine bessere Patientenversorgung

Sorgfältige Planung, Monitoring und Regulierung sind unerlässlich, um sicherzustellen, dass KI-basierte Lösungen das Wohl der Versicherten fördern und gleichzeitig ethischen Standards entsprechen.

Unter dieser Prämisse hat KI ein großes Potenzial, das Gesundheitswesen zu transformieren, die Qualität der Gesundheitsversorgung zu verbessern und gleichzeitig die Verwaltungskosten auf Seiten der Krankenkassen zu senken, indem Prozesse effizienter gestaltet, Behandlungskosten durch geeignete und rechtzeitige Prävention vermieden und Fälle von Abrechnungsbetrug erkannt werden. Bei der Umsetzung ist ein Zusammenschluss verschiedener Krankenkassen wünschenswert, um einerseits die notwendigen Investitionen gemeinsam zu schultern und andererseits den Versicherten einen einheitlichen Zugang zu einer innovativen und hochwertigen Gesundheitsversorgung zu gewährleisten.
Über die regulatorischen Aspekte hinaus kann der Einsatz von KI in den Krankenkassen positive Auswirkungen auf die soziale Gerechtigkeit und den Zugang zur Gesundheitsversorgung haben, indem die Versicherten dabei unterstützt werden, informationsbasierte Entscheidungen über ihre Gesundheit zu treffen. Außerdem profitieren die Versicherten von der Früherkennung potenzieller Gesundheitsprobleme, da sich die Chancen auf eine erfolgreiche Behandlung erhöhen. Zuletzt wird die Gesundheitsversorgung durch maßgeschneiderte Vorsorge- und Therapieempfehlungen deutlich verbessert.


[1] Als Model Drift wird das Phänomen bezeichnet, dass sich ein KI-System auf unerwünschte Weise mit der Zeit verschlechtert.

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Autorin

Daniela Nahnsen

Principal Business Analyst
Daniela Nahnsen ist Expertin für Künstliche Intelligenz bei Capgemini.