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Europäische Interoperabilitätsregulierung im öffentlichen Sektor: Mechanismen, Pflichten und Handlungsempfehlungen

Dr. Jakob Efe
20.06.2024
capgemini-invent

Um Verwaltungsverfahren vollständig digital und nach dem Once-Only-Prinzip durchzuführen, wird Interoperabilität zwischen den involvierten Behörden sowie IT-Systemen benötigt. Der EU-Gesetzgeber schafft mit der neuen Verordnung für ein interoperables Europa erstmals einen gemeinsamen Rechtsrahmen für grenzüberschreitende Interoperabilität, welcher Behörden auf europäischer und mitgliedstaatlicher Ebene in Bezug auf transeuropäische digitale öffentliche Dienste verpflichtet.

Hintergrund

OZG-Umsetzung und Registermodernisierung zeigen, dass Interoperabilität bereits auf nationaler Ebene ein komplexes Unterfangen darstellt. Vornehmlich durch die Single-Digital-Gateway-Verordnung, aber auch angesichts bi- und multilateraler Abkommen (z. B. im Besteuerungsrecht) wird es zudem zur grenzüberschreitenden Herausforderung der Verwaltungsdigitalisierung. Weiteren Umsetzungsdruck erzeugt hierbei nicht zuletzt das im Politikprogramm Digitale Dekade 2030 gesetzte Ziel, bis 2030 wesentliche öffentliche Dienste in der EU vollständig online bereitzustellen.

Bisher erfolgte die europäische Koordination von Interoperabilitätsfragen überwiegend informell und unverbindlich. So bietet seit 2010 insbesondere der Europäische Interoperabilitätsrahmen (EIF – aktuelle Fassung von 2017) konzeptionelle Orientierung. Der EIF entfaltet Interoperabilität auf vier Ebenen als holistisches Kooperationskonzept (Abb. 1). Die Ebenen beeinflussen sich wechselseitig, dabei strukturiert die rechtliche Ebene den Gestaltungskorridor auf den anderen Ebenen grundlegend vor (siehe z. B. den Zusammenhang zwischen Rechtsbegriffen und semantischer Interoperabilität).

Abbildung 1: Interoperabilitätsebenen nach dem EIF

Trotz aller Bemühungen wurde ein unzureichender Interoperabilitätsgrad im europäischen öffentlichen Sektor festgestellt, der den oben aufgezeigten Digitalisierungsambitionen im Weg steht. Vor diesem Hintergrund erkannte die EU-Kommission legislativen Handlungsbedarf und unterbreitete 2022 den Verordnungsvorschlag.

Abbildung 2: Zeitlinie der Verordnung

Die Verordnung im Überblick

Lösungen für ein interoperables Europa

Die im April 2024 in Kraft getretene (unmittelbar geltende) EU-Verordnung stellt den EIF auf ein rechtliches Fundament (Art. 6) und führt eine Weitergabepflicht für Interoperabilitätslösungen ein, die transeuropäische digitale Verwaltungsdienste unterstützen (Art. 4). Interoperabilitätslösungen verkörpern alle weiterverwendbaren Ressourcen, die rechtliche, organisatorische, semantische oder technische Anforderungen betreffen (z. B. Leitlinien, Spezifikationen oder IT-Anwendungen). Vom Beirat (s. u.) empfohlene Lösungen erhalten das Label „Lösung für ein interoperables Europa“ (Art. 7) und werden auf einem Portal (Art. 8) bereitgestellt, das von der Kommission als zentrale Zugangstelle betrieben wird.

Verpflichtende Interoperabilitätsbewertungen

Ab 2025 müssen Behörden vor jeder Entscheidung über neue oder wesentlich geänderte verbindliche Anforderungen (Verpflichtungen, Verbote, Beschränkungen etc. rechtlicher, organisatorischer, semantischer oder technischer Art) in Bezug auf transeuropäische digitale Verwaltungsdienste die Auswirkungen auf die grenzüberschreitende Interoperabilität ermitteln und bewerten (Art. 3).  Die Interoperabilitätsbewertungen untersuchen unter Verwendung des EIF die Implikationen der Anforderung auf den betroffenen Interoperabilitätsebenen. Auch Stakeholder- und Nutzerperspektiven gilt es in den Checks zu konsultieren.  

Beispielszenario: Aufgrund einer neuen Vorschrift müssen bei Anträgen auf eine bestimmte Sozialleistung Nachweise aus anderen EU-Staaten anerkannt werden. Die Nachweisabrufe sind maschinenlesbar nach dem Once-Only-Prinzip zu automatisieren. Es handelt sich zwar um eine verbindliche Anforderung, die den grenzüberschreitenden Datenaustausch betrifft, allerdings trat die Vorschrift bereits in Kraft. Eine unmittelbare Verpflichtung zum Interoperabilitätscheck liegt mithin nicht vor. Wenn die vollziehende Behörde in Vorbereitung der Umsetzung konkretisierende verbindliche Anforderungen festlegt (z. B. als Verwaltungsvorschrift, als IT-Architekturvorgaben oder in Ausschreibungsunterlagen), kann jedoch eine solche Verpflichtung entstehen. Unabhängig davon wäre ein (ggf. freiwilliger) Interoperabilitätscheck in jedem Fall empfehlenswert, um vor der Umsetzung z. B. widersprüchliche Vorschriften (rechtlich), fehlende Datenfelder (semantisch), Fragen zu Zuständigkeiten in den Verwaltungen der Nachweisgeberländer (organisatorisch) oder IT-Schnittstellenprobleme (technisch) zu adressieren.

Ebenenübergreifende Governance-Struktur

Die Verordnung institutionalisiert eine Governance-Struktur (Art. 15 ff.) mit dem Beirat für ein interoperables Europa im Zentrum, der die strategische Zusammenarbeit zu Interoperabilitätsfragen und die Umsetzung des Rechtsaktes erleichtern soll. Den Vorsitz hat die Kommission, jeder Mitgliedstaat ist einmal vertreten. Doch auch öffentliche, private, zivilgesellschaftliche und wissenschaftliche Stakeholder können im Rahmen der neuen Interoperabilitätsgovernance über die Gemeinschaft für ein interoperables Europa beratend teilhaben. Für die Umsetzung in den Mitgliedstaaten sind jeweils zuständige nationale Behörden zu benennen und angemessen auszustatten, davon je eine als einheitliche Anlaufstelle. Interoperabilitätskoordinatoren für Unionseinrichtungen bedarf es, wenn EU-Stellen Zuständigkeiten für transeuropäische digitale öffentliche Dienste besitzen.

Abbildung 3: Governance-Struktur

Unterstützungsmaßnahmen

Sog. Unterstützungsmaßnahmen für ein interoperables Europa (Art. 9 ff.) sollen die Entwicklung von Interoperabilitätslösungen fördern. Der Beirat kann der Kommission Unterstützungsprojekte für die Politikumsetzung vorschlagen. Interoperabilitätsbezogene Innovationsmaßnahmen ermöglichen die Einbeziehung von GovTechs. Für kontrollierte Verprobungen können Interoperabilitäts-Reallabore durchgeführt werden – eine konzeptionelle Konvergenz zur zeitgleich entstandenen KI-Verordnung, die ihrerseits Reallabore als Innovationsspielwiesen vorsieht. Freiwillige gegenseitige Begutachtungen durch Sachverständige aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten sind eine weitere Unterstützungsmaßnahme, ebenso wie Schulungen und Zertifizierungen durch die Kommission.

Fazit und Handlungsempfehlungen

Die Verordnung ist nicht nur wegen geschätzter Kosteneinsparungen von 5 Milliarden Euro jährlich begrüßenswert. Sie schließt eine Lücke im europäischen Verwaltungsdigitalisierungsrecht, wobei sie sinnvollerweise Governance- und Verfahrensregeln statt inhaltlicher Anforderungen an Lösungsdesigns vorschreibt. Dadurch bleibt den Digitalisierungsakteuren auf allen Verwaltungsebenen hinreichend Spielraum, um Anforderungen bedarfsgerecht sowie nach dem Stand der Technik mit Hilfe des EIF zu gestalten und weiterzuentwickeln. Überdies stellt sie die Weichen für ein europäisches Interoperabilitäts-Ökosystem – Synergiepotenziale mit bestehenden Initiativen wie dem Global Government Technology Centre Berlin liegen nahe.

Neben der Governance-Struktur und dem an ein EU-Pendant zum IT-Planungsrat erinnernden Beirat sind die Interoperabilitätsbewertungen als großer Wurf zu sehen. Zwar haben negative Bewertungsergebnisse keine Rechtsfolgen, doch allein die verbindliche Durchführung zu einem frühen Zeitpunkt wird sensibilisierend wirken und somit zu „Interoperability by Design“ beitragen. In nicht obligatorischen Fällen (z. B. bei Anforderungen an nicht grenzüberschreitende Verwaltungsdienste) können auch freiwillige Interoperabilitätschecks erwogen werden, um Kohärenz und Qualität sowie ggf. eine spätere transeuropäische Skalierbarkeit zu befördern.

Schon der Verordnungstext fordert die Verhältnismäßigkeit von Interoperabilitätsbewertungen ein. Folglich gilt es, die Checks möglichst effizient, nutzerzentriert und unbürokratisch zu designen. Hierzu empfiehlt sich die Partizipation von Behörden und weiteren Stakeholdern an entsprechenden Konsultationsinitiativen. Eine nationale Konkretisierung von Prozessen, Anleitungen und ggf. des EIFkann überdies Mehrwerte stiften. Denkbar sind etwa durch den Bund zur Verfügung gestellte weitere Hilfsmittel und Anpassungen bestehender Leitlinien wie (im Kontext rechtlicher Interoperabilität) dem Digitalcheck.

Domänenübergreifendes Vorgehen mit interdisziplinärer Expertise gefordert

Doch selbst die besten zentral angebotenen Hilfsmittel ändern nichts an der Tatsache, dass die konkrete Durchführung von Interoperabilitätschecks eine einzelfallgetriebene Aufgabe bleibt, deren Aufwand oft deutlich über „Checklisten-Abhaken“ hinausgehen wird und die ein hohes Maß an interdisziplinärer Expertise sowie methodischer Fähigkeiten voraussetzt. Die Lösung bietet dann eine ganzheitliche Interoperabilitätsberatung mit domänenübergreifenden (Recht, Semantik, Organisation, IT) Vorgehensweisen wie Legal Engineering, um die verschiedenen Interoperabilitätsebenen in ihrem Zusammenwirken zu evaluieren.

Beispielszenario: Im oben genannten Beispielszenario zum transnationalen Nachweisaustausch sind Legal-Engineering-Methoden im Rahmen eines Interoperabilitätschecks zielführend, um zunächst einen strukturierten Überblick zu regulatorischen Zusammenhängen und Herausforderungen sowie zu deren Einfluss auf die verschiedenen Interoperabilitätsebenen zu erhalten. Mit Better-Regulation-Ansätzen legen wir interoperabilitätsfördernde Optimierungspotenziale im Recht (inkl. Verwaltungsvorschriften) offen. Vor allem aber sichten wir durch eine umfassende Regelungsanalyse (Legal Landscaping) alle relevanten Vorgaben und mappen sie auf betroffene Elemente in den verschiedenen Interoperabilitätsebenen. Ontologien und Wissensgraphen helfen uns dabei, die Relationen systematisch zu erfassen und zu visualisieren. Dies erleichtert z. B. in Bezug auf die semantische Interoperabilität die Analyse von Datenflüssen und Standards. In weiteren Schritten bewerten wir die organisatorische (u. a. mittels Modellierungen und Prozessanalysen) und die technische Interoperabilität (u. a. mit Hilfe offener Spezifikationen). Übergreifend führen wir eine Interoperabilitäts-Reifegradanalyse durch und gewährleisten die erforderliche Stakeholdereinbindung. Neben unseren Ansätzen und Best Practices ziehen wir alle von der EU bzw. national zur Verfügung gestellten Anleitungen und Tools mit ein. Mit dem hier nur grob und exemplarisch skizzierten Vorgehen stellen wir hochwertige verordnungskonforme Ergebnisberichte zu Interoperabilitätschecks sicher, einschließlich umsetzungsorientierter Handlungsempfehlungen.

Insgesamt handeln Behörden richtig, wenn sie sich mit den Anforderungen aus der Verordnung und mit dem EIF vertraut machen, Interoperabilität als strategisches Handlungsfeld erfassen und sich operativ auf Interoperabilitätschecks einstellen

Unser Experte

Dr. Jakob Efe

Manager | Enterprise Data & Analytics, Capgemini Invent
Ich begleite die öffentliche Hand bei der datengetriebenen Bewältigung komplexer strategischer Herausforderungen. Als stellvertretender Leiter des Legal-Engineering-Teams von Capgemini Invent bewege ich mich dabei an den Schnittstellen von Regulatorik, Organisation und Technologie. Zu meinen Schwerpunkthemen gehören Interoperabilität, Datenökosysteme, Bessere Rechtsetzung und Anwendungsfälle für generative KI in regulatorischen Kontexten.

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